Naturgewalten - Die Dilogie | Die Vorgeschichte
Völlig entkräftet von den pausenlosen Wehen ließ sie sich in die Kissen sinken. In ihrem Arm lag das schönste Baby, was sie in ihrem Leben gesehen hatte. Es hatte haselnussbraune Augen, eine süße Stupsnase und perfekt geformte Lippen, die gierig nach ihrer Brust suchten. Dennoch wirkte es befremdlich, denn ihre Tochter hatte einen Makel, der nicht zu vernachlässigen war. Sie hatte sich gewünscht, das ihre Tochter perfekt sein würde. Und irgendwie war sie es auf den ersten Blick auch, wäre da nicht dieser eine Fehler. Innerlich fühlte sie sich zerrissen, dass sie nicht wusste, ob sie weinen oder sich freuen sollte. Zärtlich fuhr sie mit ihren Fingerspitzen über die weiche Haut ihrer Tochter. Die Tür wurde aufgerissen und sie zuckte kurz zusammen. Sie ärgerte sich ein wenig, das ihr Mann ausgerechnet jetzt eintreten musste, wo sie doch mit ihren Gefühlen kämpfte. Sie sah ihn nicht an, sondern blickte schuldbewusst hinunter zu ihrer Tochter.
„Geliebte, du siehst unendlich müde aus.“
„Das bin ich auch. Sieh nur!“
Seine Mundwinkel zuckten nach oben und seine Augen strahlten heller als jeder Stern am Nachthimmel.
„Sie ist so bildschön wie du, Geliebte“, hauchte er fasziniert.
Sie reagierte nicht. Ja, ihre Tochter war tatsächlich bildschön, wenn nur dieser eine Fehler nicht wäre. Niemand würde sie so anerkennen. Was sollte aus ihrer Tochter werden, wenn sie älter war? Jeder würde sie ausgrenzen. Leise Tränen bahnten sich über ihre Wangen. Sie konnte ihre Gefühle nicht mehr länger zurückhalten.
„Warum weinst du?“, fragte er sie erschrocken. „Hast du Schmerzen? Soll ich die Hebamme noch einmal holen?“
Müde legte sie ihre Hand auf seine.
„Nein“, wisperte sie. „Findest du unsere Tochter nicht auch befremdlich?“
„Warum sollte ich das, Geliebte?“
Erstaunt sah sie ihn an. Hatte er es nicht bemerkt? Es musste ihm doch auch aufgefallen sein.
„Sie ist nicht gezeichnet. Es muss alles ein großer Irrtum sein. Ein Fehler. Eine Laune der Natur.“
„Beruhige dich bitte!“ Er sah sie alarmiert an. „Unsere Tochter ist perfekt, so wie sie ist. Wenn sie nicht gezeichnet ist, dann wird es seinen Grund haben. Die Natur macht keine Fehler.“
„Welchen Vorteil sollte das für sie schon haben? Sie wird nirgendwo anerkannt werden“, schluchzte sie.
„Nein, so darfst du nicht denken. Du hast das schönste Mädchen der ganzen Welt geboren. Niemand wird sie ausgrenzen, dafür sorge ich, so wahr ich ihr Vater bin.“
Ihr Mann war ein Kämpfer. So hatte sie ihn kennengelernt und sie liebte diese Eigenschaft an ihm. Er hatte einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Natürlich würde er sein Mädchen, seine Tochter, beschützen und verteidigen. Er konnte zu einem Löwen werden und sein Brüllen würde alle Feinde in die Flucht schlagen. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Ihre Tochter zappelte unbeholfen in ihrem Arm und spürte die Unruhe ihrer Mutter.
„Sch … ist gut, meine Kleine. Dein Papi hat recht. Du bist die schönste Tochter, die je die Welt erblickt hat“, sagte sie mit tiefer Stimme und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Wie wollen wir sie nennen?“
„Was hältst du von Ayeleth“, schlug er vor.
Sie erstarrte. War das sein Ernst?
„Wie in der Legende? Aber du weißt doch gar nicht, ob sie die Lichtbringerin ist“, wandte sie sorgenvoll ein.
Das gefiel ihr ganz und gar nicht.
„Natürlich weiß ich das nicht. Dennoch können wir sie so nennen. Sie sieht aus wie eine Ayeleth“, lächelte er seine Frau liebevoll an.
„Die Legende, Geliebter, ist nicht sehr verheißungsvoll. Vielleicht besiegelst du damit ihr Schicksal. Ich weiß nicht, ob ich mir das für meine Tochter wünschen soll.“
In ihren Augen wäre Samyrija oder Levana geeignete Namen gewesen. Aber Ayeleth?
„Ich kann ihr Schicksal nicht besiegeln. Jeder hält sein Schicksal selbst in der Hand. Wenn sie die Erfüllung der Legende ist, können wir beide eh nichts daran ändern. Und wenn unsere Tochter es nicht ist, trägt sie wenigstens einen schönen Namen.“
„Ayeleth!“, formulierte sie vorsichtig. „Ayeleth. Ayeleth.“
Wieder und wieder sprach sie diesen Namen aus und versuchte zu erfühlen, ob er der Richtige war. Die Augen ihrer Tochter strahlten jedesmal heller, wenn sie diesen Namen sagte. Er schien ihr offensichtlich zu gefallen.
„Gut“, willigte sie schließlich ein. „Nennen wir unsere Tochter Ayeleth. Du hast recht. Es ist ein schöner Name und ich glaube, er gefällt ihr.“
„Vorhin kam eine Nachricht vom Padre. Er könnte in einem knappen Mondzyklus hier sein, dann können wir Ayeleth den drei heiligen Göttern weihen“, erzählte ihr Mann.
Sie seufzte und schloss für einige Atemzüge ihre Augen. Sie wusste nicht, was sie von dieser Weihung halten sollte. Aber ihr Mann hatte es sich so sehr gewünscht, dass sie es ihm nicht ausschlagen konnte. Ergeben drehte sie ihren Kopf ein wenig in seine Richtung und lächelte ihn mild an.
„Das ist in Ordnung, Geliebter“, antwortete sie tonlos.
„Du bist müde. Schlaf ein wenig und ruh dich aus. Selbst unsere Tochter hat ihre Augen mittlerweile geschlossen.“
Sie seufzte und ließ sich tiefer in die Kissen sinken. Ayeleth, ihre bildschöne Tochter, lag an ihrer Brust. Ihr Mann hauchte zärtliche Küsse auf ihre Stirn. Sie war glücklich. Unendlich glücklich. Sie war felsenfest überzeugt, das nichts und niemand auf der Welt ihr Glück zerstören könnte.